Zehn Anmerkungen zum deutschen Gesundheitswesen
1.Ineffizienz - Hohe Kosten, mäßige Leistung
Das deutsche Gesundheitssystem ist das viertteuerste in der Welt – übertroffen nur von den USA, der Schweiz und Frankreich. Trotzdem leben die Deutschen nicht länger als die Menschen in anderen Staaten. Elf Länder im Wirtschaftsklub OECD kommen auf bessere Werte – darunter Australien, Island und Neuseeland. Als Ursache konstatierte schon vor Jahren der Sachverständigenrat für das Gesundheitswesen eine „Über-, Unter- und Fehlversorgung“ der Patienten. Im Medizinsektor, der mehr als jeden zehnten Euro erwirtschaftet und 6 Millionen Menschen beschäftigt, gibt es also eine gigantische Fehlsteuerung, falsche Anreize und Verschwendung. Auf zehn Milliarden Euro taxiert das Essener Forschungsinstitut RWI die Effizienzreseltrven, andere sprechen gar von 30 Milliarden. Die Politik scheitert bei der Bereitstellung der notwendigen Ressourcen für den Krisenfall - es ist gerade nochmal gutgegangen -, aber auch beim Sparen – wegen der angeblich übermächtigen Gesundheitslobby und ihrer Unkenntnis der tatsächlichen Steuerungsprozesse in der unübersichtlichen „Selbstverwaltung“.
2. Jobbremse - Die Finanzierung vernichtet Stellen
Das System ist höchst ungerecht finanziert. Den größten Teil der Summe, die pro Jahr für Gesundheit ausgegeben wird, müssen Rentner und vor allem abhängig Beschäftigte zahlen. Wer Einkommen aus Kapitalvermögen, aus Vermietung, Verpachtung oder aus seinem Unternehmen bezieht, muss fast nichts beisteuern. Der Steueranteil, der in die wichtigste Säule des deutschen Fürsorgesystems fließt, ist verschwindend gering. Das Problem: Fast jeder Kostenanstieg führte in den vergangenen Jahren zu höheren Beiträgen. 1970 lag der Satz noch bei 8,2 Prozent, mittlerweile ist er auf bis zu 16 Prozent des Bruttolohns gestiegen. Mit jedem zusätzlichen Beitragspunkt wird der Produktionsfaktor Arbeit teurer, einige Unternehmer empfinden deshalb – nicht immer auf der Grundlage belastbarer Daten - einen immer stärkeren Anreiz, Menschen durch Maschinen zu ersetzen – oder eine Fabrik im Ausland hochzuziehen. Und durch die dann unvermeidlichen Kostendämpfungsmaßnahmen werden zukunftssichere Arbeitsplätze im Gesundheitswesen selbst vernichtet, die fähigsten Mitarbeiter wandern für immer ab.
3. Korruption - Betrüger haben es leicht
Die Ausgaben für Gesundheit sind mit 365 Milliarden Euro genauso hoch wie der Bundeshaushalt. Das viele Geld weckt Begehrlichkeiten. „Unsummen“ gingen jedes Jahr durch unsaubere, unwirtschaftliche und verschwenderische Praktiken verloren, urteilt die Anti-Korruptionsorganisation Transparency International (TI). An Beispielen mangelt es nicht: Ärzte rechnen Leistungen ab, die sie nie erbracht haben, konstatieren Krankheiten, nur weil dann der Vergütungssatz durch oder für die Krankenkassen hoch ist oder lassen sich von der Pharmaindustrie oder von den konkurrierenden Krankenhäusern schmieren – mit dubiosen Aufwandsentschädigungen und Honoraren. Bis zu zehn Prozent der Ausgaben im engeren Bereich des Gesundheitswesens gehen so verloren, schätzt TI – das wären 37 Milliarden Euro. Doch die Krankenkassen und die Kassenärztlichen Vereinigungen legen nur wenig Elan an den Tag, um das Problem in den Griff zu bekommen.
4. Bürokratie – Wettbewerb und zielorientierte Steuerung finden nicht statt
Ein Bundesministerium, 16 Länder-Sozialressorts, pro Bundesland mindestens eine Kammer jeweils für Ärzte und Apotheker, dazu die Vereinigungen von Kassenärzten und Kassenzahnärzten, Ärzteverbände, gut 120 Krankenkassen sowie ihre Organisationen und Spitzenorganisationen, außerdem etliche Bundesbehörden: Das Gesundheitswesen ist ein bürokratischer Dschungel mit Hunderten Funktionären und Entscheidern, übrigens alle mit guter Bezahlung. Sie versuchen immer aufs Neue, Krankenhausbetten, Ärztedichte oder Medikamentenbedarf zu planen, trotzdem mangelt es an Transparenz. Stattdessen gibt es Abrechnungsziffern, Honorardeckel, Punktwerte, Hebesätze, Fallpauschalen oder einen morbiditätsorientierten Risikostrukturausgleich. Und für fast jeden Vorgang ein Formular, aber für keinen konkrete Zielvorgaben und eine wirksame Kontrolle, ob dabei tatsächlich etwas für die Gesundheit der Bürger erreicht wurde.
5. Ausbeutung – auch manche Patienten treiben die Kosten
Die Kasse zahlt immer – für den Beinbruch des Extremsportlers, die Krebsoperation des Kettenrauchers, den Notarzteinsatz des Komasäufers, die Korrektur der verpfuschten Schönheitsoperation. Der einzelne Versicherte wird für die Folgen seiner Lebensführung nicht in die Pflicht genommen. Wie teuer eine Behandlung ist, wissen ohnehin die meisten nicht – sie müssen beim Arzt immer nur die Chipkarte über den Tresen reichen, eine Rechnung bekommen sie nicht. Dabei verursachen einer Faustregel zufolge 20 Prozent der Patienten 80 Prozent der Kosten, und diese 20% leiden keineswegs immer nur an schicksalhaften Erkrankungen. Es zahlt die Solidargemeinschaft. Im Zweifel werden alle Versicherten belastet, etwa durch immer höhere Zuzahlungen und Leistungskürzungen. Statt Strafen zu verhängen, dürfen die Kassen nur Bonusprogramme anbieten, die gesundes Leben belohnen.
6. Zweiklassenmedizin - Gutverdiener klinken sich aus
Die meisten Deutschen, rund 70 Millionen, sind in einer gesetzlichen Kasse versichert. Ein kleiner, exklusiver Kreis muss sich am Solidarsystem indes nicht beteiligen: 8,5 Millionen Menschen waren 2017 privat versichert. Für sie gibt es eine Sonderbehandlung, weil ihr monatlicher Verdienst über der sogenannten Versicherungspflichtgrenze liegt oder sie als Beamter, Anwalt, Architekt oder Unternehmer arbeiten. Dieses Zweiklassensystem gilt weltweit als exotisch, weil den Sozialkassen damit gerade das Geld der Zahlungskräftigen verloren geht. Zudem genießen Privatpatienten enorme Vorteile – im Wartezimmer sind sie schneller an der Reihe, und sie können sich von teuren Spezialisten behandeln lassen. Auch deshalb können privat Versicherte damit rechnen, trotz der Gefahren ärztlicher Polypragmasie im Ergebnis ein höheres Alter zu erreichen.
7. Kranke Häuser - Zu viele Kliniken, zu viele Betten
Mehr als ein Viertel der Ausgaben der Krankenversicherung geht auf das Konto der Krankenhäuser – fast 70 Milliarden Euro, mehr als die Wirtschaftsleistung der Slowakei. Kein Wunder – denn Deutschland ist im internationalen Vergleich üppig mit Krankenhausbetten ausgestattet, nur Japan und Korea gönnen sich noch größere Kapazitäten. Hinzu kommen die kostspieligen Doppelstrukturen: Sowohl die Krankenhäuser als auch Fachärzte wie Radiologen und Internisten haben teure Großgeräte angeschafft und müssen diese auslasten. In anderen Ländern gibt es ein solches Nebeneinander nicht – dort ist die Zusammenarbeit zwischen Kliniken und Ärzten viel intensiver. Doch der Druck auf die deutschen Häuser steigt. Etwa jede zehnte Klinik wird in den kommenden Jahren schließen müssen oder wird privatisiert, erwarten Fachleute.
8. Kassierende Kassen - Die Verwaltung der Institute ist zu teuer
1991 gab es noch mehr als 1200 Krankenkassen – heute ist ihre Zahl unter dem Druck des Wettbewerbs und der Ungereimtheiten des Gesundheitsfonds auf gut 120 geschrumpft. Der Ausleseprozess geht weiter, Noch-Gesundheitsminister Gröhe findet, dass ein Bruchteil davon vollauf genügen würde, allerdings soll es daneben weiterhin die speziellen Privatversicherungen für die letzten FDP-Wähler geben. Deren privatwirtschaftliches Vorbild soll auch die Verwaltungskosten dämpfen, die vor allem in den neunziger Jahren sprunghaft gestiegen sind – schließlich leistet sich beinahe jedes Institut teure Vorstände mit teilweise sechsstelligen Gehaltssummen. Als echte Unternehmen können die gesetzlichen Krankenkassen ohnehin nicht agieren, rund 90 Prozent der Ausgaben sind per Gesetz festgelegt, aussuchen können sie sich zumindest offiziell ihre Kunden auch nicht.
9. Pseudo-Pillen - Viele Medikamente kosten zu viel
Neue Arzneimittel seien in Deutschland erheblich teurer als in anderen Ländern, bemängelt Ulrich Schwabe. Er ist Autor des Arzneiverordnungsreports, einer Publikation, die jedes Jahr den Medikamentenmarkt durchleuchtet. Der ist milliardenschwer: 29 Milliarden Euro mussten die Versicherten im vergangenen Jahr dafür ausgeben. Jahr für Jahr sind die Steigerungsraten enorm – den Herstellern zufolge sind die Segnungen des Fortschritts dafür verantwortlich. Schuld ist aber auch die merkwürdige Preispolitik der Branche: Ein Mittel zur Immunisierung gegen Gebärmutterhalskrebs kostet in den USA 247 Euro, in Deutschland hingegen 477 Euro. Hinzu kommen Zweifel an den vielen neuen Präparaten, die die Hersteller auf den Markt werfen. Nur ein Bruchteil der seit 1990 eingeführten Medikamente habe wirklich einen zusätzlichen Nutzen für die Patienten, glaubt die Anti-Korruptionsorganisation Transparency International. Mitunter geben die Konzerne mehr für Marketing als für Forschung aus.
10. Ärzteschwemme - Zu viele in der Stadt, zu wenige im Dorf
Kaum ein Land leistet sich ein derart großes Heer von Heilkundigen wie Deutschland. Sowohl bei den Fach- als auch bei den Allgemeinärzten liegt die Bundesrepublik weltweit in der Spitzengruppe, wie eine Studie des Rheinisch-Westfälischen Instituts für Wirtschaftsforschung (RWI) ergab. Die Ärztedichte liegt demnach bei mehr als 40 Prozent über dem internationalen Durchschnitt, die Zahl der Ärzte nahm in den vergangenen Jahren sogar weiter zu. Dabei gelten Mediziner als die wichtigsten Kostentreiber – sie können die Nachfrage nach Leistungen zum Teil selbst steuern, weil sie gegenüber ihren Patienten einen Informationsvorsprung haben. In den Städten ist die Konkurrenz groß, auf dem Land dagegen gibt es oft nicht genügend Praxen, vor allem in dünn besiedelten Regionen mit alternder Bevölkerung.
Quellen: Tagesspiegel, Gesundheitspolitischer Brief Dr. Klöpfer